Der Mann, der die Gesetze der Bewegung fand, war ein heimlicher Ketzer – und einer der produktivsten Theologen seiner Zeit.
Im Jahre 1675 stand der junge Isaac Newton vor einem Problem. Wenige Jahre zuvor war er zum Fellow des Trinity College ernannt worden, was einen wichtigen Meilenstein seiner akademischen Karriere darstellte. Doch jeder, der zur Körperschaft der Einrichtung gehörte, war verpflichtet, binnen sieben Jahren die Priesterweihe zu empfangen und sich somit zur anglikanischen Lehre zu bekennen. Diese Frist neigte sich für Newton ihrem Ende zu.
Das geforderte Bekenntnis aber konnte und wollte er keinesfalls ablegen, denn in den vergangenen Jahren hatten ihn umfangreiche Studien der Bibel und der Geschichte des Christentums dazu gebracht, den Anglikanismus zu verachten und religiöse Positionen zu vertreten, die in scharfem Kontrast zur offiziellen kirchlichen Lehre standen. In den Augen seiner Zeitgenossen wäre Isaac Newton ein Ketzer gewesen, der einige der wichtigsten Doktrinen des Christentums in Frage stellte. Doch vor der Öffentlichkeit hielt er seine Gedanken geheim, und über Jahrhunderte sollte seine Religiosität, ähnlich wie seine Faszination für Alchemie, im Schatten seiner wissenschaftlichen Leistungen verborgen bleiben.
Gott der Götter
Obwohl er schon immer ein religiöser Mensch gewesen war, intensivierte Newton seit den frühen 1670er-Jahren seine Beschäftigung mit der Religion. Seinem kritischen Geist entsprechend prüfte er unablässig jede Behauptung der offiziellen Lehre, bis er Widersprüche fand, die ihn zu teils radikalen Schlussfolgerungen bewegten.
So lehnte er die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist mit der Begründung ab, dass in der Bibel nichts von dieser Behauptung zu finden sei und sie auf eine bewusste Verfälschung der Lehre durch Athanasius, den Bischof von Alexandria, im 4. Jahrhundert zurückgehe. Für Newton gab es nur einen, absoluten Gott, den er mit Gottvater identifizierte, während Christus zwar eine besondere Rolle zukomme, er aber nicht mit Gottvater identisch sei. Hier zeigt sich eine Parallele zu den Positionen der Arianer, deren Schriften Newton aus der Bibliothek seines Lehrers Isaac Barrow kannte.
Noch spektakulärer war aber wohl seine Behauptung, die menschliche Seele sei keineswegs unsterblich, da die Bibel nichts über eine Existenz zwischen Tod und Wiederauferstehung aussage. Stattdessen gehe aus Bibelstellen wie Kohelet 9,5-10 eindeutig hervor, dass auf die Menschen bis zum Tag des jüngsten Gerichts nur das Nichts warte. Nur ein kleiner Kreis gleichgesinnter Freunde erfuhr von diesen Überlegungen, denn insbesondere die Leugnung der Trinität wurde im 17. und frühen 18. Jahrhundert als schweres Verbrechen geahndet.
Teufel, Dämonen und das Ende der Welt
Noch während Newtons Lebzeiten dauerte die Verfolgung und Hinrichtung vermeintlicher Hexen an. Zauberei und Dämonen waren für viele Menschen ein selbstverständlicher Teil der Welt. Doch der Physiker stand diesem Aberglauben kritisch gegenüber, zweifelte er doch daran, dass es sich bei den in der Bibel beschriebenen Dämonen um reale Wesen handelte. Stattdessen interpretierte er sie auf durchaus modern anmutende Weise als bildhafte Umschreibungen seelischer Zustände. Mit den „inneren Dämonen“, die sich als Störungen des Geistes manifestieren, war er selbst durch mehrmalige Nervenzusammenbrüche vertraut.
Entsprechend verstand er auch den Teufel als Symbol der menschlichen Niedertracht, nicht als real existierende Gestalt. Ein solches Wesen, das sich dem Willen Gottes widersetzt, wäre auch schwer mit seinem Gottesbild vereinbar gewesen. Doch anders als in der modernen Exegese zweifelte Newton nie an der Autorität der Bibel als Offenbarung Gottes und verstand insbesondere die Prophezeiungen als wahrhafte Berichte kommender Geschehnisse, die allerdings in einer chiffrierten Sprache niedergeschrieben seien und somit decodiert werden müssten. Die Apokalypse datierte er schließlich auf das Jahr 2060, doch erwartete er nicht den Weltuntergang, sondern den Anbruch eines neuen Zeitalters unter der Herrschaft Christi, wie es auch die Prämillenaristen lehrten.
Kosmische Harmonie
Für die Aufklärer, die sich auf Newton als einen ihrer Vordenker beriefen, stellte dessen Religiosität ein Problem dar. Für sie war er der Entdecker eines Universums, das man oft mit einem Uhrwerk verglich: zwar habe Gott möglicherweise die Welt geschaffen, doch vom Beginn der Schöpfung an seien lediglich Naturgesetze, keine überirdischen Kräfte am Werk gewesen.
Doch diese Vorstellungen haben nichts mit Newtons Überzeugungen zu tun. Er glaubte, dass Gott beständig in die Schöpfung eingreifen müsse, um ihre Funktionalität zu gewährleisten, und dass er sich den Menschen sowohl in der heiligen Schrift, als auch in der Natur selbst offenbare. Von einem gottlosen Universum war sein Weltbild weit entfernt, sah er doch gerade in der Harmonie und Beständigkeit des kosmischen Systems einen Beweis für das Wirken eines intelligenten Schöpfers.
Naturphilosophie statt Wissenschaft
Tatsächlich dürfen Newtons physikalische Arbeiten nicht losgelöst von seinen religiösen Positionen betrachtet werden, denn beide Bereiche gehen ineinander über. In einem seiner Werke über Offenbarung erklärt er, dass Gott alle Dinge mit der größten Schlichtheit erschaffen habe, da er ein Gott der Ordnung und nicht des Chaos sei. Aus dem Glauben an die Schlichtheit der Schöpfung, die sich im Gesamten auf Gott als letzte Ursache zurückführen ließe, lässt sich leicht der Wille zur Vereinheitlichung scheinbar unzusammenhängender Ereignisse durch universelle Naturgesetze erklären, der sich in Newtons Werk findet.
Selbst seine Vorstellungen vom absoluten Raum und absoluter Zeit, die mit Einstein verworfen wurden, haben wohl einen theologischen Hintergrund, denn sie entsprachen für Newton der Universalität und Zeitlosigkeit des Schöpfers. Wissenschaft und Theologie ergänzten für ihn einander, und wahre Erkenntnis müsse in letzter Konsequenz auf die Erkenntnis der Eigenschaften Gottes abzielen. Damit entsprach sein Forschungsideal durchaus den Traditionen der Naturphilosophie, die sich mit ihrem metaphysischen Bezug noch deutlich von der heutigen Naturwissenschaft unterschied.
Rettung durch den König
Das Dilemma des Jahres 1675, in dem die Karriere des jungen Forschers durch seinen Glaubenskonflikt bedroht wurde, löste sich schließlich durch unerwartete Hilfe: König Karl II. befreite die Professoren des Lucasischen Lehrstuhls von der Pflicht, ordinierte Kleriker zu sein und ermöglichte es Newton dadurch, guten Gewissens in Cambridge zu bleiben. Seine ketzerischen Gedanken hielt er vor der Öffentlichkeit geheim, bis er im Jahr 1727 als hochbetagter Mann auf dem Sterbebett die letzten Sakramente verweigerte. Erst heute, wenige Jahrzehnte vor dem Zeitpunkt, auf den Newton die Apokalypse datierte, beginnen Historiker den Theologen Newton wiederzuentdecken.