Ein neuer Archimedes
Gelegentlich, wenn er Spaziergänge durch seinen Garten unternahm, soll ihn eine Idee mit solcher Wucht getroffen haben, dass Newton plötzlich zurück in seine Kammer stürmte und seine Gedanken im Stehen niederschrieb. Er wirkte dabei, so formulierte es sein langjähriger Gehilfe Humphrey Newton, „wie ein neuer Archimedes, der Heureka ausruft“. Auch ansonsten soll der Physiker, zumindest in seiner Zeit als Lucasischer Professor, meist in Gedanken vertieft gewesen sein und seine Zeit mit wenig Anderem als Nachdenken verbracht haben.
Manchmal habe er seine Kammer den ganzen Tag nicht verlassen, und oft seien sogar die Mahlzeiten unangetastet geblieben. Zu dieser kargen Lebensführung passten seine Schlafgewohnheiten: er soll selten vor 2 oder 3 Uhr ins Bett gegangen sein und nur etwa 4 Stunden geschlafen haben. Um Äußerlichkeiten kümmerte sich der hagere Mann, der bereits mit Anfang Dreißig ergraut war, auch nur wenig: seine Kleider seien in der Regel unordentlich, die Schuhe abgetreten und die gelockten Haare ungekämmt gewesen.
Ein Buch, das niemand versteht
Dieser äußerlichen Bescheidenheit entsprach aber keineswegs ein in jeder Hinsicht bescheidenes Gemüt. Im Gegenteil: Newton war sich seiner Fähigkeiten sehr wohl bewusst. Sein Magnum Opus, die „Principia“, verfasste er absichtlich in einer komplizierten mathematischen Sprache, um, wie er sagte, „Nichtskönner davon abzuhalten, sie zu lesen und zu kritisieren“. An denen, die ihn nicht verstanden, mangelte es nicht: als er einmal über den Campus der Universität von Cambridge schlurfte, soll ein Student getuschelt haben, dort gehe „der Mann, der ein Buch geschrieben hat, das niemand versteht, nicht einmal er selbst“. Als Professor war er wohl eine Katastrophe: seine Vorlesungen waren schlecht besucht und die wenigen Studenten, die sich der Herausforderung stellten, in der Regel heillos überfordert. Angeblich soll er aus Trotz manchmal im leeren Saal seinen Vortrag gehalten haben.
Der Drache und sein Grimm
Aber nicht nur überzogener Stolz ließen ihn über jene spotten, die ihm intellektuell unterlegen waren. Hinter der vermeintlichen Arroganz verbarg sich eine tiefe Furcht vor Kritik. Er wollte um jeden Preis vermeiden, noch einmal in eine Auseinandersetzung wie jene mit Robert Hooke im Jahre 1672 zu geraten, als die beiden Wissenschaftler hitzig über die Natur des Lichts gestritten hatten.
Die Mühe war vergebens. Nach Veröffentlichung der Principia im Jahre 1687 wurde er nicht nur mit Anerkennung, sondern auch mit Kritik überschüttet. Ein besonders schwerer Vorwurf kam ausgerechnet von Hooke: dass Newton das Abstandsgesetz der Schwerkraft von ihm gestohlen habe.
Newton war über den Vorwurf so empört, dass er drohte, die Arbeit am dritten Buch der Principia einzustellen. Es ist nur der feinfühligen Intervention von Edmond Halley zu verdanken, dass das wohl wichtigste Werk der Wissenschaftsgeschichte fertiggestellt wurde. Dennoch tilgte Newton alle Verweise auf Hooke aus der Principia und veröffentlichte sein anderes großes Werk, die „Opticks“, erst nach dessen Tod. Als er den Vorsitz der Royal Society übernahm, soll er der Legende nach sogar Hookes einziges Porträt zerstört haben.
Mit List gegen die Kollegen
Es war nicht das erste Mal, dass Newtons Angst vor Kritik dazu führte, dass er wichtige Forschungsergebnisse erst spät oder gar nicht publizierte. Zwar hatte er die Infinitesimalrechnung bereits Jahrzehnte vor dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelt, doch dieser veröffentlichte seine Methode früher als Newton. Was folgte, gilt als einer der erbittertsten Prioritätsstreits in der Wissenschaftsgeschichte.
Ungerechtfertigterweise behauptete Newton, Leibniz habe die Methode von ihm gestohlen, und ließ diese Unterstellung durch seine Freunde verbreiten. Eine „neutrale Untersuchung“ der Royal Society, die Newtons Prioritätsanspruch unter die Lupe nehmen sollte, kam tatsächlich zum Schluss, dass Leibniz ein Plagiator sei. Doch der Abschlussbericht dieser Untersuchung war von Newton selbst verfasst und anonym veröffentlicht worden. In seiner Wut schreckte der Engländer nicht davor zurück, den Ruf des Philosophen zu zerstören, und bis zu Leibniz‘ Tod kurze Zeit später blieben die beiden großen Denker unversöhnliche Feinde.
Eine gestörte Persönlichkeit
Noch verwirrender war für die Zeitgenossen eine Phase geistiger Verwirrung, die auf einen Nervenzusammenbruch im Jahre 1693 folgte. Newton, der nach eigener Auskunft tagelang keinen Schlaf fand, schrieb paranoide Briefe an Freunde wie John Locke oder Samuel Pepys, in denen er ihnen unter anderem vorwarf, sie hätten ihn mit Frauen verkuppeln wollen. Glücklicherweise erholte er sich nach einigen Monaten und bat für die Schwierigkeiten, in denen er gesteckt habe, um Entschuldigung, bevor er zur gewohnten Arbeit zurückkehrte. Manche Forscher führen diese problematische Phase auf eine Quecksilbervergiftung aufgrund seiner alchemistischen Forschungen zurück, doch sie war nicht das erste Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung in Newtons Leben.
In einer selbstkritischen Liste von Sünden aus dem Jahr 1662 führte der spätere Wissenschaftler auf, dass er nicht nur „viele geschlagen“, sondern sogar seinem Stiefvater und seiner Mutter gedroht habe, sie mitsamt ihrem Haus in Brand zu stecken. Überhaupt sehen viele Psychologen in der Beziehung zu seinen Eltern die Ursache für seinen schwierigen Charakter. Er war ohne Vater aufgewachsen und von seiner Mutter verlassen worden, als er drei Jahre alt war. Erst sieben Jahre später kehrte sie zurück, nachdem sie mit Barnabas Smith einen Mann geheiratet hatte, für den der junge Isaac nur Verachtung empfand.
Kein schlechter Mensch
Seinen Freunden und Bekannten galt der kontaktscheue Isaac ansonsten aber als durchaus angenehmer Zeitgenosse. Immer wieder werden sein sanftmütiges Wesen und seine Großzügigkeit gelobt. Die Witwe eines Bekannten soll er über Jahre hinweg mit Geld unterstützt haben, und wenn seine Freunde seine Hilfe brauchten, zögerte er nicht einzugreifen – auch wenn er oft erst von anderen auf die Notlage hingewiesen werden musste. Zu seinen wenigen engen Vertrauten gehörte der Schweizer Mathematiker Nicholas Fatio de Duillier, der Philosoph John Locke und seine Nichte Catherine Barton, die ihn im Alter umsorgte. Eine Liebe hat es in seinem Leben anscheinend nie gegeben, und angeblich soll er als Jungfrau gestorben sein.