Leonardo fertigte beeindruckende anatomische Zeichnungen an, ohne jedoch große physiologische Entdeckungen in der Anatomie zu machen.
In der Nachwelt werden neben Leonardos Gemälden seine Zeichnungen bewundert. Ein zutreffendes Beispiel ist eines der am meisten vervielfältigten Bildmotive, „Der vitruvianische Mensch“. Diese Skizze zeigt sein Interesse an menschlichen Proportionen. Wenn man schon auf das erwähnte Bildmotiv zu sprechen kommt, sollte man zusätzlich seine beeindruckenden anatomischen Skizzen mit den vielen Notizen berücksichtigen, denn sie veranschaulichen die Anatomie der menschlichen Körperteile und Organe in damals noch nicht gekannter Genauigkeit. Sie sind ein Beweis für sein umfangreiches anatomisches Wissen und verdeutlichen, wie sehr er sich damit auseinandersetzte. Gleichwohl waren die anatomischen Zeichnungen, nach dem Medizinhistoriker William Bynum, erst einmal praktisch unbekannt und übten deshalb zunächst keinen bemerkenswerten Einfluss aus. Scheinbar erkannte der bedeutendste der frühen Anatomen, Andreas Vesalius (1514-1564) in seinem berühmten Buch De humani corporis fabrica (1543) die Bedeutung von exakten anatomischen Darstellungen. Es ist schließlich das erste medizinische Buch, in dem die anatomischen Abbildungen wichtiger waren als der Text.
Anatom ohne große physiologische Entdeckungen, aber mit traditionellen Ansichten
Leonardo war anscheinend von der Anatomie fasziniert. Sein Interesse daran geht, den Dokumenten zufolge, auf die späten 1480er Jahre zurück. Wahrscheinlich unternahm er aber schon vorher anatomische Studien. Mit Sicherheit wurde er früh mit anatomische Detailfülle aufweisenden Skulpturen anderer Künstler konfrontiert. Seine wohl am besten dokumentierte Sektion eines vollständigen menschlichen Leichnams war die eines alten Mannes (itl. „vecchio“). Darüber hinaus führte Leonardo wohl weitere Sektionen durch. Hierbei ging es aber offenbar nur um bestimmte Körperteile oder Systeme des Körpers. Tiere bzw. Körperteile von Tieren waren in diesem Kontext für ihn häufig auch von Relevanz und dienten ihm als Sektionsobjekte. Insgesamt werden Leonardos anatomische Studien in die Kategorie ‚Leonardo als Wissenschaftler’ eingeordnet, ohne dabei seine Rolle als Künstler zu vernachlässigen. Die Anatomie gehörte nach Auffassung von Leonardo wie die Geometrie oder Teile der Mathematik zu den Grundlagen der Malerei. Seine Faszination an der Anatomie ist also aus seiner Künstlerarbeit entstanden.
Nichtsdestotrotz sollte man vielleicht außerdem seinen Status des ‚Maler-Philosoph’ und als Lehrer von Schülern bzw. Lehrlingen in seiner Werkstatt berücksichtigen. Für ihn war es demnach wichtig, in Bezug auf seine Kunst profunde wissenschaftliche Kenntnisse über die von ihm abgebildeten Dinge zu haben. Einige Aspekte bei seinen anatomischen Studien sind jedoch überraschend. Obwohl Leonardo scheinbar großen Wert auf Forschung legte und der Erfahrung gegenüber dem reinen Buchwissen einen höheren Rang beimaß, erstaunt in Bezug auf Anatomie oder den menschlichen Körper sein Festhalten an traditionellen Weisheiten. Er stützte sich beispielsweise auf Teile der antiken Lehre von den vier Körpersäften – Blut, Schleim, weiße Galle und schwarze Galle, welche nach der damaligen Vorstellung den vier Elementen entsprachen – und den vier Temperamenten – sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch. Damit das für einen gesunden Körper notwendige Gleichgewicht wieder hergestellt werden konnte, war, laut der damaligen Auffassung, die Ausbalancierung der Körpersäfte erforderlich.
Bei seinen Studien über das menschliche Gehirn hielt der bedeutende Künstler ferner grundsätzlich an der mittelalterlichen ‚Dreikammernlehre’ fest. Die Gehirnventrikel stellte man sich demnach als Kammern/Orte der geistigen Tätigkeit vor. Im Mittelalter wurde die Dreikammerlehre von den Scholastikern mehrmals modifiziert. Leonardo zufolge waren die drei Kammern im Gehirn folgendermaßen aufgebaut: Zu Beginn treffen die Sinneseindrücke in der imprensiva, eine Art Empfänger, ein, bevor die Daten der fünf Sinne in der zweite sowie bedeutendste Kammer, dem sensus communis („Allgemeinsinn“), zusammenlaufen und sie koordiniert sowie interpretiert werden. Dort verortete Leonardo die Vorstellungskraft (fantasia), den Verstand (intelletto), die Vernunft und sogar die Seele. Die dritte Kammer, die memoria (Gedächtnis), war dann für die Speicherung der Informationen zuständig. Neben seinem Festhalten an klassischen Vorstellungen in der Anatomie muss konstatiert werden, dass Leonardo nichts entdeckte, was etwa die traditionelle Physiologie revolutionär verändert hätte. Er machte, mit anderen Worten, keine großen physiologischen Entdeckungen.
Die Bedeutung von Funktionen und Proportionen
Der Mangel an solchen Funden darf nicht über sein beeindruckendes Wissen bezüglich der Anatomie sowie seine Darstellungskunst von Körperteilen oder Organen hinwegtäuschen. Anscheinend wird der Akt des Zeichnens der Organe und Körperteile bei ihm zu einer Demonstration von deren Form und Funktion. Ohnehin war er von der Funktion jeder sichtbaren Form überzeugt. Leonardo entwickelte generell, wie es Martin Kemp ausdrückt, eine bis dahin einmalig umfassende und dreidimensionale Sichtweise des lebendigen menschlichen Körpers. Seine beispiellosen plastischen Darstellungen der Muskeln, Sehnen, Knochen und Nervenstränge eröffnen den Betrachtern demgemäß ein Verständnis für die faszinierenden Formen und Funktionen des menschlichen Körpers als Ganzem und seiner einzelnen Teile.
Im Hinblick auf Leonardos Proportionsstudien ist die nochmalige Erwähnung der Skizze ‚Der vitruvianische Mensch’ angemessen. Der Name wurde der ca. 34,4 × 24,5 cm großen Zeichnung von der Nachwelt in Anlehnung an den antiken/römischen Baumeister und Militäringenieur Vitruv gegeben. Dieser beschrieb in seinen Schriften unter anderem, was Leonardo in der Skizze visualisiert. Letztere zeigt ein und denselben Mann in zwei unterschiedlichen Stellungen. Zunächst wird durch den von einem Quadrat umschlossenen Mann mit horizontal ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen illustriert, dass die Spannweite der ausgestreckten Arme die Körpergröße eines Menschen angibt, während bei dem Mann mit ausgestreckten Armen und Beinen der Nabel der Mittelpunkt des ihn umschließenden Kreises ist.
Die „legendären“ Probleme mit den Autoritäten
Legendär sind Leonardos angebliche Schwierigkeiten mit den Orthodoxen seiner Zeit hinsichtlich der Anatomie. Wegen seinen anatomischen Aktivitäten denunzierte ein Mann, laut einigen Quellen, Leonardo im Hospital und beim Papst. Durch diesen Vorfall scheint sich eine alte Ansicht zu bestätigen: Das revolutionäre Genie Leonardo da Vinci geriet in Konflikt mit konservativen kirchlichen und weltlichen Autoritäten, die seine anatomischen Studien mit Argwohn betrachteten. Allerdings ist solch eine Vorstellung eine moderne Legende, da die Kirche gegen das Sezieren von menschlichen Leichen prinzipiell nichts einzuwenden hatte. Seine Probleme in diesem Zusammenhang lassen sich mit Hilfe von zwei Gegebenheiten erklären. Leonardo hatte zum einen keine Lizenz zum Sezieren. Zum anderen waren Leichen aufgrund des Nichtvorhandenseins von wirkungsvollen Kühlverfahren schwer zu beschaffen. Alles in allem sollte Leonardo, wenn man seine anatomischen Studien zu Grunde legt, mehr als beeindruckender Zeichner gesehen werden und weniger als professioneller Anatom. So besteht nicht die Gefahr einer übertriebenen Mythologisierung.